Schriftzüge: 1. Buch

(1-10)

1

Ohne Erinnerung, sei sie zeitlich oder fiktiv, muss es dem, der erzählen will, doch schwerfallen, zu erzählen. Weder kann er sich auf seine Erfahrung noch auf seine Phantasie stützen. Also steht er ziemlich lose im Raum, nackt gleichsam, da ihm alle Stoffe, die er für seine Erzählung bräuchte, fehlen. Nach was kann er sich richten, nach einem Hauch, nach einem Deut? Dass daraus keine Wege entstehen, wie man sie von einer Erzählung erwarten darf, ist hier schon am Anfang zu vermuten, auch, dass ein letzter Zusammenhang unter den Dingen wohl nicht erreicht werden wird. Das erstaunt mich schon wieder - Zum einen, dass ich nun begonnen habe, von etwas zu erzählen, von dem ich gar nicht erzählen kann. Zum anderen, dass sich doch Worte dafür zeigen, so kurzzeitig oder schwebend sie auch erscheinen. Ich sehe mich in einem Raum, vorgelehnt in einen nächsten Raum, der derselbe Raum ist, und wahrscheinlich tickt noch dieselbe Stunde, nur dass ich sie mehr wahrnehme als zuvor. Heißt so nun also Worte sagen, die man doch nicht zu sagen weiß?

 

2

Dass ich sage, hat mich von Kindheit an verwirrt. Wahrscheinlich, weil ich in großen Räumen aufgewachsen bin, in denen stets vor jeder Antwort die Antwort des Raumes stand. Der Raum hat mich aufgezogen, denke ich manchmal. Der Raum hat mich von Anfang an verwirrt. Er hat mich in seine Undeutlichkeit gezogen oder in ein Gespür für die Doppelheit, die Verschwommenheit des Lebens. Nicht bloß meine Worte verwirrten mich, auch meine Gestalt, meine Schritte gaben Anlass zu Verwirrung, da sie sich ebenso von den Wänden widerwarfen wie meine Worte. Es stellte sich mir als Kind die Frage, an wen Wort oder Gestalt gerichtet sind, da Mutter oder Vater immer nur das Zweite waren, was aus diesem großen Ersten des Raumes hervortrat. Wenn ich nach ihnen rief, ging der Ruf durch die Zimmer, durch die Gänge, durch das Treppenhaus. Oft, dass ich dachte, es käme jemand, und manchmal, dass mir träumte, es wäre jemand da. Zu einer Zeit war es gar nicht mehr schlimm, wenn niemand mehr kam, weil auch der Hall etwas Bergendes hatte. Einmal sah ich eine lichte Figur in der Tür. Ich dachte, sie wäre meine Mutter. Später verstand ich, dass sie auch meine Mutter war. „Gute Nacht!“, sagte ich mir manchmal vor, und hörte das „Gute Nacht“ aus dem Raum, dem hohen Zimmer, wenn auch undeutlich - aber war damit zufrieden.

 

3

Wer zu hören beginnt, gerät doch in ein seltsames Spiel. Wenn sich ihm diese Scheuklappen an Augen und Ohren öffnen, dieses bewahrende Leder, das Stille oder bloße Nacht gewesen war, ereignet sich das absurde Phänomen, als würde sich nun alles erweitern, und so es sich erweitert, das eigene Selbst erfunden in eine erfundene Landschaft stellen. Wer zu hören beginnt, dem ist es doch, dass alles zu Fata Morganen wird, und dass er beginnt, das gewesene Eine als Vielfalt zu begreifen, worin er kaum noch weiß, wo er sich befindet. Wo er von sich ausging, beginnt er sich zu begegnen: ein absurder Rhythmus aus Strömung und Hügeln, und wer er war, ist oder sein wird, wird sein, was sich hinter den Hügeln zeigt. Er spricht, und alles wird zum kommenden Phänomen seiner selbst. Landschaften ziehen an den Hügeln auf, Häuser, die morgen zerfallen. Tänzer sieht er hervor, und sieht morgen schon den Leichenzug aus demselben. Dem, der hört, gerät die Stelle, von der er ausgeht, zu einem recht absurden Punkt: gleichsam derjenige, der außerhalb der Welten bleibt; das Instrument, das von der Fiktion, die es erzeugt, nichts weiß. Als weißen Punkt nimmt er sich wahr, aus dem sich die Farbe entwirft. Er nennt sich den Fremden, wenn sich rings ein Traum von Zuhausesein und Ankunft ergibt. Er nennt sich den Schatten, wenn er die Höhe eines Gedankens erklimmt. Er spricht Worte, und geht in Chiffren unter sich her. Er weiß, dass es keine Äußerung gibt für das, was man hören muss, damit es ist.

 

4

Gestern Nacht aufgewacht, und jemand stand an meinem Bett. Noch immer ging der Sturm der letzten Tage ums Haus, aber alles war sehr still. In den Dachfenstern, wenn ich mich erinnere, waren die Wolken zu sehen, aber sie bewegten sich nicht. Jener, der am Bett stand, war circa 35 Jahre alt. Das war mein erster Gedanke, dass er dieses Alter hatte. Er betrachtete mich. Er maß mich, wie man sagt: „von der Sohle bis zum Scheitel“, und hätte sich der Traum nicht fortgeführt, ein Traum, der, glaube ich, von einer Reise handelte, von allerlei Begegnungen und Gesprächen, hätte mich dieses Betrachten wohl sehr erschrocken, mehr noch als die Gestalt selbst. Es hat mich ja immer erschreckt, wenn da von Gewicht, Maß oder sonstigen Zusammenfassungen des Lebens gesprochen wurde. Ein Mensch, 1.70 Meter groß, 70 Kilogramm schwer, geboren an jenem Tag, wird sterben an einem anderen Tag; von Beruf dieses, von Schicksal jenes - an anderen hat es mich gewundert, an mir selbst hat es mich erschreckt. War ich selbst davon betroffen, bei Formularen zum Beispiel, kam es mir als die Enthebung aller Wirklichkeit meiner selbst vor: Aus einem Wasser wird ein Gegenstand gehoben, und da zeigt sich, dass es den Gegenstand auch ohne das Wasser geben kann, ja, dass dieses Heraus- oder Aufgehobensein sein natürlicher Zustand ist, und bald, dass sich alles um ihn verliert, dass man vergisst, dass es ihn ganz anders gab: nämlich getragen: seine Hand, die offen lag - Fiel mir daher zuerst das Alter jener Gestalt auf? Denn sie hatte ihr Alter, auf diese ganz enthobene Weise. Vermutlich hat kein Mensch, wenn er noch lebt, sein Alter. Aber jene Gestalt hatte ihr Alter. Erschreckend wäre an der Gestalt, die auch bald wieder verschwand - vermutlich dauerte das Betrachten kaum eine Minute - auch ihr „Augenbereich“ gewesen. Das nenne ich so, weil es aussah, als hätte die Gestalt eine Brille getragen, eine mit überaus starken Augengläsern, worin sich ein schwarzer Rest von Auge, weit zurückgezogen, zeigte. Dieses nach hinten geschobene Auge schien aber weniger Hintergründe als mehr, bis zur Erstorbenheit, Vordergründe zu betrachten. Horizont oder Weite, das, was uns doch die Räume schafft, was uns aufatmen lässt und den Dingen Welt verleiht, schien diesen Augen ganz unbekannt geworden. Er betrachtete mich. Und nach dem Aufwachen meinte ich, dass noch immer ein Hauch seiner Erscheinung in meinen Gedanken läge. Jedenfalls, dass alles so leer um mich wurde. Ich erlebte etwas, sagen wir, dass ich nur in der Anwesenheit meiner selbst nicht erlebt hätte. Der Tag, noch so belebt, stürzte von mir fort. Es war bald alles so senkrecht. Ich begriff nicht mehr, woraus sich das, was wir an Reise, Begegnung erlebt hatten, schöpfen konnte.

 

5

Das Besondere am Buch waren diese „Schriftzüge“; nachts träume ich davon, als ginge ein wirbelnder Wind durchs Zimmer, der meine Atemschablonen, meine Zeitfragmente um eine ferne Mitte hebt. Ich begreife erst dann, dass sie Atem sind; kaum meiner, eher einer Geschichte, eines Ursprungs, der sich mit-bewegt, auch Zeit ist oder von anderer Zeit. Ich lausche diesen „Zügen“, ihren Hebungen und Senkungen, den Tälern und Sonnen, die sie hervorbringen, während ich selbst mehr und mehr an Anwesenheit verliere. Schriftzüge, in die ich das einzelne der Tage hineinhebe, und da schwebt es schon, erstaunlich, und die Wände und mein Sprechen werden durchsichtig. Es ist, als ob wir ganz aus Bildern bestünden oder einem Denken, das ganz auf dem Gehalt des Bildes ruht. Das Wörtliche kräuselt sich am Rand eines Meeres, zerfällt unter Felsen, zerrinnt über Sand, die Tage gleichen Pfützen und Schlamm - aber dahinter ist immer das Meer. Mein Auge liegt unter Gewächs, aber öffnet es sich, ist immer das Meer -

 

6

Gestern fiel ich fast diesen Abhang hinab, der sich unversehens aus dem Gezweig ergeben hatte, und aus der aufgeweichten Erde, dem nassen Schnee, sprangen meine Schritte hervor: Spuren dann, die, als ich aufsah, Zungen glichen, Flammen - und dass mein ganzes Dasein sprach, nach all den Tagen, es sprach wieder, oder anders: dass Stimmen in mir aufkamen, dass sich ein Gespräch einstellte, dass ich, in mir, wieder etwas zu sagen fand. Da war es so still in dem Tal, oder was war es? eine Talmulde, so still, und doch, dass ich sprach, dass die Flamme aus mir stieg, dass ich ... voller Worte. Seltsam, dass das Meine immer des Sturzes bedurfte. Ich hatte sonst nie eine Zeit. Aus der Waagrechte musste es die Senkrechte sein. Zu ihr hinab und dann hinauf: der Bruch, die Unterbrechung, und als sie aufgestellt war: als Beispiel des Abgrunds: deine Leere - warf mich hin, leer war es um mich, aber als ich lag (aufrecht), auch immer reiner - Ich lauschte, immer, im Wald, oder nach einem zerbrochenen Wort, auf -

 

7

Welt-Ort-Gegend, die eine Zeit ist - schon bald wird alles Zeit sein. Erinnern wir uns? Wir erleben die Gegenwart der Zeit. Vermissen wir? Wir vermissen das Dasein der Zeit. Noch, dass sich alles verbirgt. Solange der Ort nur in sich selbst greift, es nur die Schritte sind, die einander folgen, vage im Schnee und bald verweht, wird uns die Zeit, die der Ort ist, kaum erscheinen. Erst, wenn der Ort fällt, geht uns die Zeit, die der Ort ist, auf. Die Zeit wird ihr Recht behaupten. Was bist du? Was ist es? Alles nennt sich neu. Zeit, die alles durchdringt. Spur - oder gar Biografie? - ihrer Anwesenheit. Wenn der Ort fällt, ahnen wir ... „Wolke“ sagt der Ort zu aller Gestaltung. Die Zeit aber sagt „Du“ -

 

8

Unsichtbar, ich weiß kaum, immer dahin wollte mein Herz. Unsichtbar, der Kontur entgangen, den Pfaden entlang, abwegig in eigenen Gedanken. In den Tagen war mir oft nichts lieber, als mich ganz zu vergessen und von mir selbst und der Welt nicht viel zu halten, um nur eingängiger, der Tiefe leichter zu sein, um leichter in sie hinein, hinüber zu dürfen. Unsichtbar, einer, an dem die Tage nicht haften; einer, der nicht zum Gegenbild der Straße wurde; dessen Füße in der Dunkelheit seiner Schuhe träumen - Dahin wollte mein Herz. Ein Herz, das nur das eine Wort für alle Dinge kannte (und kennen wollte): Tür -

 

9

Morgens lese ich derzeit in Gogols „Toten Seelen“, und mich wundert, wie einer in solch schwarzen Zeilen so viel Musik verbergen kann. Ich lese das Buch, kaum dass ich wach bin, und mir ist, ich begäbe mich auf eine Brücke, die noch ganz der Biegung folgt meines inneren Gehörs. Heute die Begegnung mit der Hofbesitzerin Nastasja Petrowna gelesen, bei der Tschitschikow die Nacht auf dem Sofa verbringt, über ihm die Wolke eines zimmergroßen Federkissens, in das er sich hinein birgt. Zuvor musste Tschitschikow in den Schlamm fallen, weil sich sein Kutscher ins Feld verfuhr und die Kutsche umkippte. All diese Bilder, denke ich? Was ist es? Als ginge eine Musik unter den Zeilen vor, und sie macht alles, was nur Schatten wäre, so licht. Ich lese, ich atme, ich habe gesehen - und dass ich gesehen habe, rettet den Tag. Wie weit, denke ich, wenn ich am Fenster stehe, wie weit! Diese Möglichkeit: Als wären dort, am Horizont, die Wälder zu berühren. Als wären noch weiter die Berge zu berühren. Welche Kraft, allein daraus, gesehen zu haben! Welcher Schwung das ist, welcher Flügel, der all dies zur Welt erhebt! Wie weit! Wie weit ... und - wie nutzlos? denke ich. (Obwohl es ein Unrecht ist, das zu sagen.) Da geht sie noch, die hohe, lichte Figur, die alles vereint; Bilder, die sich suchen und reimen; Atem, der sich erfüllt; Welt, die zusammenkommt; für uns, zur Mitte; Ereignis des Wortes, wundersamer Raum ... aber wie ist das, was ist, doch nicht dasselbe; wie geht das, was ist, an dem vorüber. Weder hat es Beispiel noch Nennung, sodass ich am Ende nicht mehr weiß, was gewesen war; zurück in das Zimmer gehe an den Schreibtisch, und weder ahne ich, noch erinnere ich die Figur. Eine nutzlose Aufregung reizt mein Herz, sodass ich tausend Sachen beginne, und werfe mich auch so in die Zeilen, aber zerstreue mich nur, und weiß von der Bewegung, die war, nur noch Schatten und Reste.

 

10

In einem Traum war ich einmal mit einem Kind unterwegs. Man hatte uns geraubt, wir saßen unter anderen Dingen auf der Ladefläche eines Karrens. Wenn ich mich erinnere, fuhr der Karren auf ein Land zu, und wir befanden uns nah an der Grenze. Ein roter oder eher grüner Sonnenball schwebte über dem Land. Wir kamen an einem Baum vorüber, auf dessen Ästen Raben oder Krähen saßen. Je näher wir dem Land kamen, desto schwerer oder trüber wurden wir. Wir konnten uns kaum noch halten. Das Kind, das sich an meine Schulter gelehnt hatte, fiel von mir ab, und ich hatte nicht die Kraft, es aufzufangen. Unsre Glieder wurden hölzern, ich konnte meinen Kopf kaum noch regen. In der Hand hielt ich noch immer unsre Schätze. Denn das Kind und ich waren Schatzsucher. Durch viele Zeiten hindurch hatten wir Münzen, Lichter und andere Dinge gesammelt - als aber meine Hand immer schwächer wurde, sank der Beutel auf den Karren, und es waren nur noch welke Blätter darin.